Der kreative Widerspruch
Theorie und Praxis der dialogischen Psychotherapie, insbesondere der Kinder- und jugendpsychotherapie
von Sarasin, Andreas
Der Widerspruch ist eine Realität im Leben des Menschen, die oftmals als unangenehme Wirklichkeit übersehen, umgangen oder als unerträgliche Spannung verdrängt wird. In der heutigen Zeit des Umbruchs mit zunehmender Vernetzung und der Wanderung von Personen und Informationen kommt es immer häufiger zur Begegnung von sich widersprechenden Standpunkten. Eltern, aus sehr unterschiedlichen Ländern stammend, möchten ihr gemeinsames Kind erziehen. Fernsehen und Internet tragen sehr unterschiedliche Informationen an die Kinder und Jugendlichen heran. Unaufhaltsam wächst der Pluralismus und damit das Spektrum der Möglichkeiten, aber auch die Verunsicherung und die Versuchung, in überholte Einseitigkeit und Dogmatik zurückzufallen. Das Potential an Widersprüchen und Konflikten nimmt zu. In der Familie, der Schule, am Arbeitsplatz, in der Politik ist immer mehr die Fähigkeit gefragt, mit Widersprüchen und Konflikten auf eine Art und Weise umzugehen, die nicht zerstörerisch und nicht von Machtansprüchen bestimmt ist. Vielmehr könnte ein gemeinsames Bedürfnis zur Kooperation und Solidarität entstehen, ein Wille, der Differenzen stehen lässt und damit auch die Identität des anderen achtet. Für die Psychotherapie bedeutet dies, dass in dieser Zeit des Umbruchs auch innerseelische Widersprüche und Konflikte häufiger und stärker werden. Sie können zwischen verschiedenen psychischen Dimensionen bestehen wie Gefühl und Verstand, Realität und Phantasie oder auch Individuum und Gesellschaft. Es gilt zunächst, die durch Widerspruch entstehende Spannung auszuhalten, um sie allenfalls für ein für alle Beteiligten Neues fruchtbar machen zu können. Dazu benötigen wir bestimmte Grundlagen sowie die Einübung in den Umgang mit Differenzen, Widersprüchen und Konflikten, seien es nun solche zwischen Personen, zwischen Standpunkten oder zwischen innerseelischen Tendenzen. Die zweckmässige Verbindung von Theorie und Praxis ist dafür die Basis. Die theoretische Leitlinie für die Arbeit mit Widersprüchen bildet die Philosophie der Dialogik. Die konkreten Probleme der Kinder, Jugendlichen und ihren Familien können vor dem Hintergrund dialogischen Denkens betrachtet und behandelt werden. Das vorliegende Buch zeigt auf, wie die Theorie der Dialogik und die praktisch psychotherapeutische Arbeit miteinander verwoben werden können. Die Umsetzung dialogischen Denkens wird anhand von Therapiestunden und Behandlungsverläufen vom Autor praxisnah veranschaulicht. Den Fachpersonen in helfenden und heilenden Berufen sowie den für Erziehung und Gesundheit zuständigen Politikerinnen und Politikern vermittelt dieses Werk Voraussetzungen für ein zeitgemässes Denken und Handeln in ihrem beruflichen Alltag.