Ein Gott ein Tier
von Ferrari, Jérôme
Tief gilt es hinabzusteigen in den Brunnen der Psyche, wo die prägenden Ereignisse des Lebens im Schacht der Vergangenheit verborgen liegen. Und hoch zu greifen haben wir von dort unten her, wollen wir verstehen, was wir sagen, wenn wir >Gott< sagen und das Tier in uns entdecken, das seine Beute reißt und nicht satt wird an seinen blutigen Bissen. Einst, so heißt es in diesem erschütterndem Roman, gingen die Menschen in die Wüste, um Gott zu finden, aber sie fanden nichts als den klaffenden Raum ihrer Seele, und Gott war der klaffende Raum ihrer Seele.
Kurz nach dem 11. September 2001 entschließt sich ein junger Mann, seine Identität an den Drillich der Söldner abzugeben, die sich in unzähligen Uniformen am Checkpoint einfinden. Er wird als einziger verschont werden vom Tod, anders als sein Jugendfreund Jean-Do, anders als sein militärisches Vorbild Conti, anders als jene vielen, deren Körper zu einem Bild des Grauens zersplittern, als eine Autobombe inmitten einer Menschenmenge explodiert.
Der junge Mann kehrt zurück in sein Heimatdorf, findet aber in ihm sein Zuhause nicht wieder, gleichwohl alles dort versammelt ist: die Häuser, ihre Bewohner, seine Eltern, all das, was er einst floh, um Sinn zu finden in der eisernen Sprache des Krieges.
Durchdrungen vom Schmerz existenzieller Verlorenheit, bleibt ihm ein einziger Ankerpunkt: die wundersame, von irritierender Schönheit geprägte Erfahrung des Eros, das innige Bild eines Mädchens, das ihm einst Worte der Liebe zuraunte. Sie beide waren damals vierzehn Jahre alt. Jetzt erinnert er sich dessen, sucht nach der jungen Frau, einer inzwischen erfolgreichen Headhunterin, die ihr Leben dem namenlosen Wesen kapitaler Gewinnoptimierung als Opfergabe darbietet und es im blendenden Glanz materieller Sicherheit zu verlieren droht.
EIN GOTT EIN TIER ist ein wuchtiges Requiem über eines der zentralen Themen des Daseins. Er zeichnet ein hell scheinendes Bild über die dunkle Neigung des Menschen, sich einem höheren Wesen unterordnen zu wollen. Und liegt der Refrain dieses Gesangs in der Frage, wie ein solcher Gott beschaffen sein mag, der das Grauen ebenso umfasst wie die Liebe, so antwortet Jérôme Ferrari mit der außergewöhnlich poetischen Kraft seiner Sprache und lässt den Aufschrei hörbar werden gegen ein scheinbar ewig geltendes Gesetz: dass die Dinge nun einmal auf ihre rätselhafte und grausame Weise schlecht enden. Wer diesen Roman gelesen hat, wird ahnen, wie wir uns dem Lauf der Dinge entgegenstellen können.